Anprallheftigkeit für Fahrzeuginsassen – ASI und THIV sind keine objektiven Kennwerte

Anprallheftigkeit Vergleich ASI THIV HIC Betonschutzwand Stahlschutzplanke

Quelle Abbildung: Linetech – basierend auf den veröffentlichten Ergebnissen der TU Graz: Darstellung der ermittelten ASI -, THIV – und HIC36 – Werte in einem gemeinsamen Diagramm. Im oberen Diagrammbereich wird dabei das Verhältnis des HIC zum THIV abgebildet (rechte y-Achse); im unteren Diagrammbereich werden die ASI-Werte mit dem HIC-Kennwert in Verbindung gebracht.

Das europäische Regelwerk EN 1317 regelt die Prüfung von Fahrzeug-Rückhaltesystemen (FRS). Bei allen PKW-Fahrzeugprüfungen muss unter anderem die sogenannte Anprallheftigkeit bestimmt werden.

Quelle Abbildung: EN 1317-2:2010 (deutsche Fassung): Fahrzeugprüfungen, Prüfungskriterien und zugehörige Fahrzeugarten

Gemäß den Vorgaben der EN 1317 wird die Anprallheftigkeit im Wesentlichen durch zwei Kennwerte beschrieben:

  1. ASI (Acceleration Severity Index) und
  2. THIV (Theoretical Head Impact Velocity)

Beide Kennwerte sind Rechenwerte und basieren auf Algorithmen, welche durch die EN 1317-1 vorgegeben werden. Der ASI – Wert hat keine Einheit und wird nach der rechnerischen Ermittlung der jeweiligen Stufe der Anprallheftigkeit A, B oder C zugeordnet; der THIV wird in km / h angegeben. Bei Schutzeinrichtungen (SE) darf der ASI – Wert maximal 1,9; der THIV maximal 33 km / h betragen.

Quelle Abbildung: Linetech

Die Grundlage bildet dabei i.d.R. ein triaxialer Beschleunigungsaufnehmer, welcher in der vertikalen Projektion des Massenschwerpunkts auf dem Tunnel des Test – PKW instrumentiert wird. Der Algorithmus für den ASI – Wert berücksichtigt dabei alle drei gemessenen Beschleunigungswerte (x-, y- und z-Achse); der Algorithmus für den THIV nur zwei (x- und y-Achse).

Bei Fahrzeugprüfungen außerhalb der EN 1317 (z.B. Euro NCAP) werden bei nahezu allen PKW – Anprallversuchen sogenannte ATD (Antropomorphic Test Device, umgangssprachlich auch Crashtest – Dummy genannt) verwendet. Bei den EN 1317 Fahrzeugprüfungen wird nur für eine einzige Fahrzeugprüfung ein ATD vorgeschrieben: Beim TB11 (PKW, 900 kg, 100 km/h, 20° Anprallwinkel) muss ein ATD angeschnallt auf dem anprallseitigen Vordersitz platziert sein. Dabei wird der ATD jedoch nicht instrumentiert. Wie bei allen anderen PKW – Fahrzeugversuchen wird auch beim TB11 der Fahrzeugschwerpunkt als Einbauort für die Messtechnik vorgeschrieben.

Quelle Abbildung: EN 1317-1:2010 (deutsche Fassung), Extrakt Tabelle 1 – Festlegung für Fahrzeuge

ASI und THIV sollen die Grundlage bilden für die Abschätzung von Verletzungswahrscheinlichkeiten für Fahrzeuginsassen, welche durch Beschleunigungen aufgrund eines Fahrzeuganpralls verursacht werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass durch die Instrumentierung der Messtechnik im Schwerpunkt des Fahrzeuges keine objektive Aussage über die Auswirkungen auf Fahrzeuginsassen möglich ist. ASI und THIV sind aufgrund der Lage der Messtechnik ausschließlich Kennwerte des Fahrzeugs im Fahrzeugschwerpunkt.

Ein weltweit anerkannter und vielfach verwendeter Kennwert für die Abschätzung der Schwere von Kopfverletzungen durch Beschleunigungen ist der HIC – Kennwert (Head Inury Criterion). Der HIC – Kennwert wird unter anderem bei Unfallprüfungen von Euro NCAP Fahrzeugprüfungen, Passagiersitzgruppen von Flugzeugen, Arbeitsbühnen und Gerüsten sowie auch Kinderspielkonstruktionen ermittelt. Bei den HIC – Kennwerten wird die Messtechnik direkt in den Kopf eines ATD (Crashtest-Dummy) instrumentiert. Somit werden die Messungen direkt an einem der kritischen Bereiche eines Menschen durchgeführt. Die Festlegung von kritischen Schwellenwerten in Bezug auf die wahrscheinliche Verletzungsschwere wird dabei von Bio – Medizinern vorgenommen. Es wird unterschieden in HIC15 und HIC36 Kennwerte. Der Unterschied liegt im jeweils betrachteten Zeitintervall, beim HIC15 sind das 15 ms (Millisekunden), beim HIC36 entsprechend 36 ms.

Am Institut für Verkehrssicherheit (VSI) der TU Graz wurden zum Thema Anprallheftigkeit und Vergleich von ASI / THIV und HIC ein umfangreiches Projekt an sehr vielen verschiedenen Schutzeinrichtungen durchgeführt. Bei den insgesamt 73 durchgeführten TB11 Anprallprüfungen wurde parallel zur vorgeschriebenen (EN 1317) Messtechnik im Fahrzeugmassenschwerpunkt auch der (vorgeschriebene) ATD auf dem anprallseitigen Vordersitz im Kopf mit Messtechnik instrumentiert. Bei allen durchgeführten Anprallprüfungen wurden somit gleichzeitig ASI – / THIV – und HIC36 – Kennwerte ermittelt. Die nachfolgende Abbildung zeigt die Projektergebnisse als direkten Vergleich der ASI – mit den HIC36 – Kennwerten.

Quelle Abbildung: TU Graz (VSI): ASI – und HIC – Kennwerte an 38 Stahlschutzplanken und 35 Betonschutzwänden

Die Ergebnisse des Projektes sind insofern sehr aufschlussreich, da es keine erkennbare Korrelation zwischen ASI – und HIC – Kennwerten gibt. Interessant sind die Verläufe der beiden dargestellten Regressionslinien: Steigen die HIC36 – Wert bei den Stahlschutzplanken mit zunehmendem ASI – Kennwert an, fallen sie bei den Betonschutzwänden; das gleiche Verhalten zeigt sich übrigens auch bei den THIV – Kennwerten (siehe Beitragsbild). Besonders auffällig ist der ASI C Bereich: Alle dort aufgezeigten Ergebnisse liegen unterhalb eines HIC36 – Kennwertes von 300. Der Wert 300 gilt als anerkannter Schwellenwert für die Wahrscheinlichkeit einer schweren Verletzung durch Beschleunigungskräfte. Unterhalb einem HIC36 – Wert von 300 ist die Wahrscheinlichkeit einer schweren Verletzung gering. Zum Vergleich: Der kritische Bereich für schwere Verletzungen oder gar Tod beginnt ab einem HIC36 – Wert von etwa 700. Diesbezüglich ist anzumerken, dass im Projekt der TU Graz zwei Schutzeinrichtungen diese kritische Marke nur sehr knapp unterschritten haben (s. Beitragsbild).

Zusammenfassung und Ausblick

Die Ermittlung der Anprallheftigkeit bei EN 1317 Anprallprüfungen basiert auf dem Stand der Technik und aus Festlegungen aus den 1990-er Jahren. Bezüglich der Vorgaben ist festzustellen, dass die in den EN 1317 Fahrzeugprüfungen ermittelten ASI – und THIV – Kennwerte keine objektive Einschätzung einer Verletzungsschwere von Fahrzeug-Insassen zulassen. Die Ursache liegt physikalisch begründet an der Instrumentierung der Messtechnik im Fahrzeugmassenschwerpunkt, wodurch in Folge “nur” ein Fahrzeug – Kennwert (im Massenschwerpunkt) generiert wird. Dieser kann jedoch nicht als belastbarer Kennwert auf Fahrzeuginsassen übertragen werden, da sich Insassen an einer völlig anderen Position im Fahrzeug befinden.

Der durchgeführte Vergleich – von ASI / THIV Kennwerten mit dem international anerkannten HIC Kennwert – der TU Graz hat ergeben, dass es keine belastbare Korrelation zwischen ASI – / THIV – und HIC – Kennwerten gibt. Mit Blick auf die Diskussion um die Insassensicherheit von ASI C – Schutzeinrichtungen wird in den Projektergebnissen der TU Graz – insbesondere durch die Vielzahl der durchgeführten Anprallprüfungen mit HIC – Wert Ermittlung – sehr eindrucksvoll nachgewiesen, dass alle beteiligten Schutzeinrichtungen mit ASI C – Kennwerten unterhalb dem von Bio-Medizinern vorgegebenen kritischen HIC36 – Schwellenwert von 300 liegen und somit eine geringe Wahrscheinlichkeit für schwere Verletzungen aufweisen (s. Grafik TU Graz).

Nationale Regelwerke sollten in Bezug auf Vorgaben und / oder Einschränkungen den Stand der Technik mit in die Bewertung einbeziehen. Europäische Regelwerke haben Vorlaufzeiten von 10 Jahren oder eher mehr. Nationale Regelwerke sind diesbezüglich wesentlich flexibler in Bezug auf erforderliche bzw. sinnvolle Anpassungen. EU-Regelwerke erfordern den Konsens von aktuell 27 individuellen Staaten; nationale Regelwerke bieten den “Spielraum”, im Rahmen der vorgegebenen Leistungsdaten aus den EN 1317 Anprallprüfungen pragmatische und schnelle Lösungen bereitzustellen.